Die Kanoniere von Niederdollendorf

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Köpenickiade am Siebengebirge anno 1910

Geschichte zum Griemeln von Karl Heinz Kirchner

Aus einer Fortsetzungsserie der Bonner Rundschau von 1960

Wilhelm Vogt, alias „Hauptmann von Köpenick“, nachmaliger Held von Geschichten, Literatur und Film, ließ seine Berliner lachen. Er entzauberte in einer Zeit die Hauptmannsmontur und lehrte seine Zeitgenossen auf ungewollte Weise, dass nicht jeder Hauptmann zwangsläufig ein Hauptmann sein muss.ZweiAlteKononiere Der Hauptmann von Köpenick und seine Zeitgenossen wussten nicht, dass in dem kleinen Rheinort Niederdollendorf bei Bonn einige bauernschlaue und pfiffige Gesinnungsgenossen gleich ihm mit Mitteln der Uniformierten etwas gegen Uniformierte unternahmen. Nicht weniger zielstrebig, nicht weniger gerissen, wenn auch im Endeffekt weniger populär.

Heute, 50 Jahre danach, sind die Begebenheiten aus den Jahren um 1910 vielbelachter Gesprächsstoff in den Abendgesprächen älterer Dollendorfer. Heinrich Bungartz, genannt Hein, hat nach 47 Jahren Aufenthalt in Amerika als Dreiundachtzigjähriger zurückgefunden an den Rhein. Er, dem auch heute noch der Schalk aus allen Knopflöchern schaut, war vor 50 Jahren „Oberste Heeresleitung und großer Kriegsrat“ der Niederdollendorfer „Kanoniere“.

Drei Jahre ließen die Niederdollendorfer Kanoniere ihre Böller gegen die „Langröcke mit Schleppsäbel“ steigen: die Polizisten. Zunächst gegen den Ortsgendarmen, dann gegen die Gendarmerie, gegen Bonns legendären Polizeiinspektor Wittkugel, gegen die Staatsanwaltschaft und gegen Kriminalbeamte aus Köln, Koblenz und Berlin. Es wurde ein Privatkrieg, den junge Niederdollendorfer mit wachsender Begeisterung und unter wachsendem Beifall ihrer Ortsbewohner gegen die Vertreter staatlicher Obrigkeit inszenierten.

Es gab dabei keine Verluste außer Prestigeverlusten. Und Tränen, denn es wurden damals wie heute dicke Tränen gelacht. Gelacht über die Pfiffigkeit dieser jungen Niederdollendorfer Kanoniere, die trotz dreijähriger intensiver Bemühungen der verschiedensten Polizeiorgane nicht zu fassen waren.

Die Bonner Rundschau beginnt am Mittwoch mit der Veröffentlichung einer Fortsetzungsserie über das Treiben der „Niederdollendorfer Kanoniere“. Erzählt und geschildert von den letzten Zeugen dieser Zeit um 1910, in der die kleine Gemeinde am Siebengebirge  über den Regierungsbezirk hinaus den Ruf eines „verkrachten“ Ortes hatte und im Sprachgebrauch der Rheinländer „Klein-Paris“ genannt wurde.

Quelle: Bonner Rundschau
Nr. 97 vom 26. April 1960
 

 

1. Teil

Niederdollendorf 1910. Jahr des Kirchenbaus. Ein Sonntagmorgen wie viele. Die ersten Kirchgänger stauen sich vor der Kirchentür. Sie  drängen sich vor einem handgemalten Plakat. Sie lesen: „In der Quetscheburg (Kellerstraße) ist heute Nacht eine Prinzessin angekommen. Aus diesem Anlass ist heute Viktoriaschießen. Um 23 Uhr Signalschuss hinter der Kirche.“ Die Kirchgänger grienen verständnisvoll. Sie wissen, wer das geschrieben hat und wer schießen wird: Die Niederdollendorfer Kanoniere. Und sie wissen noch mehr: Sie wissen: Punkt 23 Uhr kracht es in der Gemeinde zu Ehren von „Brenks Lene ihrem Töchterche“, der Prinzessin, zur Freude der Niederdollendorfer Grielächer, zum Ärger und Gram des Ortsgendarmen Klefisch.

Wenige Minuten vor 23 Uhr: Ortsgendarm Klefisch eilt fliegenden Schrittes durch die Gemeinde. Sein Schnauzbart zittert. Die Hand hält er am Knauf seines Schleppsäbels. Er wird sie kriegen, diese Burschen, die ihm seit Jahr und Tag das Leben in der Gemeinde zur Hölle machen! Er wird sie aufs Kreuz legen, diese ominösen Gestalten, die sich stolz „Kanonier“ nennen, nachdem sie vom Volksmund so genannt wurden.

Gendarm Klefisch eilt an den vielen Niederdollendorfer Bürgern vorbei, die sich den Spaß nicht entgehen lassen wollen und wie am Neujahrstag auf der Straße stehen und das Geburtstagsschießen erwarten.

Die Uhren zeigen 23 Uhr, Gendarm Klefisch sucht das Gelände hinter der Kirche ab. Er sieht niemanden. Da plötzlich tut sich vor ihm die Erde mit höllischem Blitz und Feuer auf: Der Signalschuss der Niederdollendorfer Kanoniere! Und danach beginnt es zu krachen. Fünfmal, zehnmal, zwanzigmal. Jeder Krach ein Volltreffer. Ein Volltreffer im Ehrgeiz des Mannes in Uniform, des Ordnungshüters Klefisch, des Mannes mit dem Säbel! Ende der Vorstellung. Der Niederdollendorfer Volksmund registriert mit unverhohlener Schadenfreude: „Add widde en Blamasch!“

 

Treffen der Grielächer

50 Jahre danach sitzen beim „Bebbes“, beim „Müllersch Franz“ in Niederdollendorf drei ausgewachsene Grielächer und lassen dicke Tränen über ihre Backen laufen. Es sind Herren, die Auskunft darüber geben können, wie es damals mit den „Kanonieren“ war. Denn sie waren die Hauptleute dieser Vereinigung von Übermütigen gegen die Selbstherrlichkeit und Willkür des Uniformierten, des Klefisch.

„Weeste noch, wie de Wuurschkessels Hein vür dat Huus vom Äärzesecker trok on sung: „Erfreut Euch Ihr lieben Seelen, ein Wunder ist geschehen!“. Un wie de Hammese Klös dem Fladde op de Muul un sing Zijaae en de Hals jehaue hät, on dä dann frog: „Sag, Jong, eß dat ernst?“ – „Jojo dat!“

Sie kommen ins Erzählen, die reisigen Grielächer. Und sie haben viel zu erzählen; denn vier Jahre lang ... aber das ist die Geschichte, die es hier zu erzählen gilt. Eine Geschichte, die es verdient, als rheinisches Volksstück geschrieben zu werden. Denn der Witz dieser aus der Zeit von 1910 zu verstehenden Begebenheiten gibt sich vor allem im Niederdollendorfer Platt zu erkennen. In den Spitznamen der Gestalten, der Orte, der Handlungen. Der Begebenheiten der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, als drei Mark der Tagesverdienst eines Fuhrmannes und Arbeiters waren, als die meisten Niederdollendorfer in den Steinbrüchen der Umgebung und als Fährleute, Fischer und Handwerker arbeiteten. Als die Bewohner Zeit hatten, ausgiebig über sich, die Nachbarn und die Streiche der „Kanoniere“ nachzudenken, zu witzeln und zu lachen.

 

Flapp ons öm de Lappe

Man kann die Geschichte nicht beginnen lassen, ohne sich vorher ausführlich mit den Gestalten zu beschäftigen, mit den „Haupt-Leuten“.

Heinrich Bungartz heißt der Hauptmann und Rädelsführer. Aber unter diesem Namen ist er bestenfalls im Taufregister und im Pass eingetragen. In Niederdollendorf hat er stets „Ibet“ geheißen, „Bongartze Drikkes“ oder schlicht „Hein“.

Bungartze Drikkes: man muss diesen Namen mit rollenden „Rs“ und besonders scharf sprechen. Das charakterisiert den Träger dieses Namens. Noch heute gibt er, mit seinen 83 Jahren, Temperament, Vitalität, Entschlussfreudigkeit zu erkennen. Er schießt seine Sätze ab. Seine Verzällche leitet er jeweils mit einem „Och“ ein: „Och, Franz, ich wör nach Siegburg jekomme off der Berg, wenn die mich jekriegt hätte!“

Im Niederdollendorfer Deutsch vom „Ibet“ schwingt ein bisschen Amerikanisch mit. Mehr noch: Gelegentlich fragt er zurück: „What?“ oder antwortet „okay!“. Oder in seinen Sätzen tummeln sich Deutsch, Niederdollendörfsch und Amerikanisch: „Ich denke mir, gleich krieg ich euch fott, away, na ward Jüngelche!“

Vor 50 Jahren war er ein „scharfer Hund“. Frembgens Pitte sagt dazu: „De Hein maht keene lange Verzäll, dä flapp ons öm de Lappe!“ Hein hielt sein Hördchen nach militärisch strengen Gesichtspunkten. Absoluter Gehorsam wurde verlangt. Das entsprach den Gepflogenheiten dieser Zeit. Was Hein sagte, wurde ausgeführt. Auch das lässt sich heute noch erkennen. „Ibet“ hat noch immer etwas Kaiserliches in der Stimme. Auch die schrulligsten Erzählungen sind nicht frei von Befehlstönen, wie er selbst auch nach 50 Jahren noch nicht frei von der Vorsicht ist, die ihn in den Jahren um 1910 zum unumschränkten Herrscher von Niederdollendorf machte. Wenn er erzählt, schielt er gelegentlich zur Tür. Sie hat zu zu sein; denn kein Unberufener hat zu hören, was damals geschah. Wird die Tür geöffnet, so schließt sie Hein erst wieder, ehe er seine Erzählung fortsetzt. „Och, Franz, manchmal waren et nur ein paar Schüsse, aber gute schwere Sachen!“

 

Duell mit Klefisch

Frembgens Pitte schmunzelt dazu. Dieses Bällchen von Mensch steckt voller Schalk. Auch dem 75jährigen, dem Vater von zehn Kindern und vielmaligen Großvater, schaut er noch aus allen Knopflöchern, dampft er aus der ewig brutzelnden Pief. Wenn man ihn sieht, denkt man an das, was de Fladde (Wilhelm Hammersbach) über den stets quicklebendigen  Pitte zu berichten wusste, denkt man an das Duell Gendarm Klefisch gegen Pitte in der „Rhingjaß“.

Da stand der wutschnaubende und zu allem Unglück angetrunkene Gendarm Klefisch. Er hatte seinen Degen gezogen, und schlug damit nach dem Pitterche. Der tanzte wie ein Kobold um den schwerfälligen Gendarmen Klefisch herum  und rief dazu: „Du Mölleme Schohmache (Mühlheimer Schuhmacher), Du kanns jo mit dingem Zachabel net ömjonn!“

Die Geschichte endete übrigens mit einem Gewaltstreich. Schmitte Köbes, ein Niederdollendorfer Knecht von bemerkenswerter Robustheit, erschien auf der Bildfläche mit einem armstarken Knüppel und schlug einmal kräftig zu. Auf die Pickelhaube des Gendarmen. Und die vertrug das natürlich nicht. Ebenso wenig der darunter befindliche Klefisch. Er kapitulierte, rutschte langsam an einer Hauswand der Rhingjaß in die Horizontale und schlief so seinen Rausch aus. Als er erwachte, fand er seinen Helm und Säbel nicht mehr. Die waren inzwischen in den Rhein gegangen. Baden gegangen.

Quelle: Bonner Rundschau
Nr. 98 vom 27. April 1960

2. Teil

Niederdollendorf in den Jahren um 1910. In den Straßen und Gassen dieser kleinen Rheingemeinde regiert der . . . Witz. Er ist aufgestanden gegen den Ortsgendarmen Klefisch. Dieser Klefisch, weit mehr Unordnungs- als Ordnungshüter, hatte es verstanden, durch jahrelange Boshaftigkeiten, willkürliches Protokollschreiben und unsinnige Anordnungen die Bewohner von Niederdollendorf gegen sich einzunehmen. Mehr noch: Er forderte die jungen Leute, den Einfallsreichtum, die Phantasie und den Witz dieser jungen Niederdollendorfer geradezu heraus. Und das führte zu einem Privatkrieg zwischen ungleichen Parteien. Hier Klefisch – hier Jung-Dollendorf. In der gestrigen Ausgabe stellten wir die beiden Haupt-Männer der Niederdollendorfer „Kanoniere“ vor: Bungartze Drikkes, genannt Ibet, und Fremgbens Pitter, genannt Kromm’ Botz.

Wie es angefangen hat? Die Meinungen darüber gehen auseinander. Es soll der Johann Hartmond mit harmlosem Schwarzpulver und Sektflaschen hantiert und die erstaunliche Sprengwirkung dieses Stoffes mittels Glasscherben an seinen Waden kennen gelernt haben; wie dem auch sei: eines steht fest: Ibet, Bungartze Drikkes, hantierte gern mit Chemikalien. Er sagt noch heute von sich: „Das ist mir so im Kopf. Ich brauch das nicht zu lernen, ich kann das eben!“

Wie er das konnte, davon durfte sich das Niederdollendorf von 1910 und den Jahren davor und danach hinreichend überzeugen. Der Umgang mit Sprengstoff war durch ein Gesetz geregelt, das den Missbrauch untersagte. „Ibet“ war ebenfalls gegen Missbrauch dieses für ihn interessanten Materials. Er bastelte nur damit, wie andere Leute mit Holz oder Lehm zu basteln pflegen. Er stellte Mischungen her, die den Vorzug hatten, gelegentlich zu knallen.

Da zu gewissen Anlässen geknallt werden durfte, hatte seine Bastelei auch eine ökonomische Seite. Allerdings wussten die wenigsten Niederdollendorfer von Ibets geheimen Hobby: „No, das wusste kaum jemand, dass ich der Dorfchemiker war!“ Und das wäre auch gut so gewesen, wenn nicht eben gelegentlich Knallen die Einwohner der sonst so friedlichen Gemeinde zu der Frage gezwungen hätte: „Wer knallt denn hee add widde!“

 

Dann jitt et Protoköllsche

Das erste Mal soll es Neujahr 1908 geknallt haben. Ortsgendarm Klefisch hatte das Abschießen von Kanonenschlägen (sie kosteten damals 30 Pfennig) und Böllern untersagt: „Ich komme jedem an de Krage, dä dat net senn löss. Dann jitt et Protoköllsche!“

Das musste junge Leute herausfordern. Denn Klefisch schrieb gern und viel Protoköllsche. Und immer waren sie über 3 Mark (in Ziffern: drei) ausgestellt. Drei Mark: das war damals der Tagesverdienst der meisten Niederdollendorfer.

Silvester rückte näher. Nachtwächter Kurscheidt machte seine Runde. Gendarm Klefisch ebenfalls. Mit der üblichen Fahne, übrigens. Dieser Zustand machte ihn besonders empfindlich gegen die Jugend des Ortes, mit der er sich zu dieser Zeit bereits im Kriegszustand befand.

Die Uhren rückten auf 24 Uhr vor,  die ersten Neujahrsrufe ertönten, und da begann es zu krachen. Hinter der Kirche, „up Müllersch Wiess“ und auf dem Lagerplatz am Rhein. Es kracht so, dass Schiffers Marie, die gerade einen Eimer Wasser geholt hatte und damit die Treppe hinaufgestiegen war, rückwärts wieder herunter kam. Mit dem Eimer Wasser.

Niederdollendorf freute sich über das Geböller. Schon weil es Klefisch verboten hatte. Weil die Böllerschützen einen Namen haben mussten, gab ihnen ein „Gedienter“ den zutreffenden Namen „Kanoniere“, denn sie hantierten und werkelten wie die Kanoniere an mittelschweren bis ganz schweren Geschützen. Aber das vor allem später. Vorerst taten es noch die kleinen Knaller.

 

Drei, vier, Feuer

Klefisch ist außer sich. Er wird immer verkniffener. Und das vor allem, weil der Wachtmeister Haufe, der im Polizeibezirk Oberkassel / Dollendorf / Königswinter Dienst tut, mit den jungen Leuten besonders gut kann. Sie parieren ihm aufs Wort. Und so beschließt Klefisch, die immer dreister werdenden Jüngelchen zu beschatten. Einmal wird er sie bei ihrem verbotenen Handwerk erwischen.

Er braucht nicht lange nach ihnen zu suchen. Sie sind so großzügig und kommen ihm entgegen: der Ibet, die Kromm’ Botz, de Fladde, der Bartel Hoitz, Driss-Hannes, de Gäsch, Hannes Klöss und wie sie alle heißen. Sie haben Pflastersteine mit weißem Papier eingepackt. Damit sie auch im Dunkeln zu erkennen sind. Auf diesen eingepackten Steinen liegen Kleinstladungen von Ibets Spezial-Pulvermischungen. In den Händen halten sie jeweils einen weiteren Stein. Als Klefisch auf Rufweite heran ist, kommandiert Ibet: „Feuer!“ Und dann kracht es wie eine Maschinen-gewehrsalve.

 

Sim singe Schütt

Ibets Schelmereien machen ihn erfinderisch. Außerdem weiß er seine jungen Mitverschworenen zu beschäftigen. So treten sie eines Nachts an: Linde Hein und Phillip, Wurschkessels Hein (Rechmann), Hoitze Jupp und Bartel, Frembgens Pitter und Will, Fladde (Wilhelm Hemmersbach) und Ibet. Ziel: Der Lagerplatz am Rhein, wo Sim (Siebertz) seine „Schütt“ (ein Boot zum Fischen) vor Anker hat. Sie holen das Boot aus dem Wasser und tragen es – es wiegt mehr als zehn Zentner – zum „Spekulin“ (Heinrich Klein) in der Nähe des Bahnhofs. Dort heben sie die Schütt mit vereinten Kräften auf die beiden zwei Meter hohen Torpfeiler; eine Mordsarbeit. Am anderen Morgen reiben sich zwei Niederdollendorfer ihre Augen aus. Der eine, Sim, sucht seine Schütt. Er sucht sie vergeblich. Der andere, Spekulin, sucht nichts und findet eine Schütt auf seinen Torpfeilern.

Ibet aber kommt nach diesen Streichen, die für ihn nur Erholungspausen sind, auf sein ursprüngliches Handwerk zurück. Und dies in einem Maße, wie Ortsgendarm Klefisch den „wilden Mann“ markiert.

Ibet besitzt eine Pistole. Und einen alten Wecker. Was tut er? Er bastelt sich eine Vorrichtung, die es dem Wecker ermöglicht, die Pistole zu einer bestimmten Zeit knallen zu lassen. Das heißt: Das Läutwerk des Weckers auf 22 Uhr eingestellt, garantiert, dass die daran montierte Pistole Punkt 22 Uhr abgezogen wird. Mit anderen Worten: Wenn Ibet und der Wecker wollen, kann es zu jeder Zeit und überall in Niederdollendorf krachen.

Ibet weiß, was er will. Er montiert das Gestellt „up Müllersch Wiess“ in einem Baum. Der Wecker wird gestellt. Und dann suchen Ibet und seine Gefährten möglichst auffällig die Gesellschaft des Ortsgendarmen Klefisch. Als sie gerade so hübsch versammelt sind, kracht es „up Müllersch Wiess“, und alle, die Klefisch so suspekten Personen kommen für das Krachen nicht in Frage; denn sie sind ja um ihn herum. Diese Tatsache bringt Klefisch völlig außer Fassung.

Er glaubte sich so nahe am Ziel, und nun . . . Er entschließt sich, wozu er sich aus Prestigegründen lange nicht entschließen konnte: Er entschließt sich, seine vorgesetzte Behörde in Oberkassel und Bonn von den „Schießereien“ zu verständigen.

Quelle: Bonner Rundschau
Nr. 99 vom 28. April 1960

3. Teil

Niederdollendorf in den Jahren um 1910. Aus der Hänselei zwischen Ortspolizist Klefisch und den jungen Leuten um Ibet, um Bungartze Drikkes, war ein Privatkrieg geworden. Klefisch hatte Niederlage auf Niederlage hinnehmen müssen. Nun war er das Verlieren leid. Er holte sich Verstärkung. Auf dem Dienstweg, sozusagen. Denn er wandte sich an seine vorgesetzte Behörde. Und die sah dem Treiben zunächst aus der Entfernung von Bonn mit wachsender Aufmerksamkeit zu. Schließlich hielt sie es für zweckmäßig, einen so erfahrenen und erfolgreichen Mann wie den Bonner Polizeiinspektor Friedrich Witkugel mit dem Fall der „Niederdollendorfer Kanoniere“ zu beauftragen. Damit erhielt Klefisch einen Bundesgenossen von Rang und die Kanoniere einen Gegner von Format. Sie stellten sich darauf ein.

Zunächst ging den Kanonieren das Pulver aus. Denn bisher hatten sie stets nur mit Schwarzpulver hantiert. Ibet hatte es einkaufen lassen oder selbst gemixt.

Die erste Gegenmaßnahme auf höherer Polizeiebene: Es durfte im Umkreis von Bonn Schwarzpulver nur noch zu gewerblichen Zwecken verkauft werden. Dazu waren Bescheinigungen und Ausweise erforderlich.

„Mäht nix!“, tröstete Ibet seine Kanoniere. Fortan wurden Zutaten eingekauft. Zehn Pfund Pottasche, fünf Pfund . . . usw. Es sollen hier nicht die Bestandteile moderner Sprengstoffe aufgezählt werden. Kurzum: der chemiefreudige Ibet wusste um die Zusammensetzung des „Knall-Puders“. In der Munitionsfabrik Troisdorf wie auch von Köln her ließ er sich besorgen, was er brauchte.

So begann er zu mixen. Zunächst allein und später mit Gehilfen. Mit seinen treuesten Gehilfen, mit Kromm’ Botz, Fladde, Wilhelm Käufer, und den anderen Jungen, die von ihm dazu würdig befunden worden waren. Denn Ibet ließ nun alle Vorsicht walten. Wegen des Sprengstoffes und wegen der Polizei.

 

Neue Kriegsvorbereitungen

Denn was Ibet mixte, war nicht mehr harmloses Schwarzpulver, sondern hochexplosiver Sprengstoff. Die ersten Versuche auf dem „Schießplatz“ zwischen den Gleisanlagen der Siebengebirgsbahn und der Reichsbahn hatten unverhoffte Wirkungen gezeigt. Es krachte so, dass in Niederdollendorf einige Scheiben zersplitterten, einige Häuser Ziegel verloren, dat „Landsche Marie“ so, wie sie war, in „Kohstiffele“ in die Kirche rannte, weil sie meinte, die Welt ging unter und Blootwuursch Köbes von seiner Blutwurst weg nach draußen rannte mit drohend erhobenem Finger: „Dat sinn add widde de Kanoniere!“

Ja, es waren wieder die Kanoniere, de Ibet, der seine neuesten Ladungen ausprobierte und ganz für sich herausfand, dass er etwas zu gut gemixt hatte. Deshalb schwächte er die nächsten Ladungen ab. Und so fand er mit der Zeit 21 Sprengstoff-Mischungen, von denen drei – nach Aussagen eines Gutachters – wert gewesen wären patentiert zu werden.

Die Gegenmaßnahmen der Kanoniere wurden mit einem verhältnismäßig harmlosen Streich eingeleitet. Schon lange hatte sie ein etwa 40 Zentner schwerer Findlingsblock, der unter einem Faulbaum in der Nähe des Fronhofes lag und dort als Bank benutzt wurde, gestört.

Dieser Stein wurde in der Nacht von Samstag auf Sonntag von zehn Kanonieren und mit einem flachrädrigen Karren auf den Marktplatz transportiert. Hoitze Bartel war mit einer brennenden Zigarre dem Trupp vorausgezogen und hatte Zeichen gegeben. „Wenn ich mit de brennende Zijaar von ovve noh unge zeigen, dann könnt Ühr komme. On wenn ich mit de Zijaar ne Krees mache, dann möht Ühr stonn blieve!“

Sie brauchen nicht „stonn zu blieve“; denn Hoitze Bartel malte mit seiner brennenden Zigarre fleißig senkrechte Striche in die Nacht. Und so landeten sie mit ihrem überladenen Gefährt auf dem Marktplatz.

Am anderen Morgen sah Kirchenschweizer Hermann Schäfer mit Unbehagen die Unzierde des Marktplatzes. Und obwohl er sonst den Sonntag heiligte, sah er sich an diesem Sonntag gezwungen, nachmittags mit einem riesigen Vorschlaghammer auf den 40 Zentner-Findling loszugehen. Vergebens, wie sich denken lässt. Der gute Wille dieses guten Mannes scheiterte an der Härte des Steines.

 

Festfeuerwerk auf dem Schießplatz

Ibet aber drillte seine Kanoniere auf Vorsicht. Keiner hatte etwas zu Hause über die gemeinsame Tätigkeit verlauten zu lassen. Keiner durfte Sprengkörper mit nach Hause nehmen. Dafür wurden Munitionsdepots eingerichtet. Am Friedhof, hinter der Kirche und am Rhein. Die zum größten Teil in Mannesmannröhren gut „versteckten“ Sprengpülverchen wurden in Sauerkrautfässern gelagert. Darüber kam eine Platte. Darüber eine Schicht Erde und ein flacher Grabstein.

Außerdem verbot Ibet seinen Mannen, sich auf der Straße  zusammenzurotten. Sie hatten sich fortan nur noch flüchtig und gelegentlich zu kennen.  Die Kanoniere gingen in die innere Emigration. Und dort hatten sie die Befehle, die durch Zeichen mitgeteilten Befehle vom allgewaltigen Ibet abzuwarten.

Sie warteten. Und als Signal für die verschärfte Kriegslage dachte sich Ibet nach einer entsprechenden gründlichen Vorbereitung ein Festfeuerwerk auf dem „Schießplatz“ aus. Zwölf Kanoniere holte er sich zusammen. Gegen 23 Uhr kamen sie einzeln auf die Wiese zwischen den beiden Gleiskörpern geschlichen. Posten wurden aufgestellt. Die restlichen Kanoniere machten 120 Schuss zündbereit. Sie „fuhren auf“, wie sie das nannten. Ibet rief die Posten zurück. Fladde kam aufgeregt zurück und meldete: „Dort hinge kütt der Gendarm und der Nachtswächter!“ Entschlossen wie eh und jeh kommandierte Ibet: „Alles in Ordnung? Batterie fertig? Feuer!“ Mit einem Krach, wie ihn Niederdollendorf in seiner langen Geschichte noch nie vernommen hatte dröhnten 120 Sprengladungen los. Am nächsten Tag wurde unter den sächsischen Soldaten auf dem Truppenübungsplatz in Wahn das Gerücht gehandelt, im Siebengebirge sei eine Munitionsfabrik in die Luft geflogen.

 

Polizeiinspektor Witkugel greift ein

Polizeiinspektor Witkugel war ein ehrgeiziger Mann. Er hatte in den Jahren nach 1900 bemerkenswerte Erfolge zu verzeichnen gehabt. Er hatte den Mordfall Durbusch, einen der aufregendsten Mordfälle im Siegkreis (1907) erledigt, hatte in Südfrankreich den wegen riesiger Geldunterschlagungen flüchtigen Hutanus gestellt und zurück an den Rhein gebracht und schließlich einen polnischen Spionagering auffliegen lassen. Und nun hatte man ihn gegen die Kanoniere angesetzt.

Witkugel ging die Sache gemütlich an. Als Weinhändler ließ er sich vorübergehend in Niederdollendorf nieder. Beim „Spaniun“. Und als Weinhändler schaute er sich den Ort besonders gründlich und noch gründlicher die jungen Leute an.

Aber auch die Kanoniere und deren Freunde schauten sich in diesen Tagen alle Niederdollendorfer Neubürger besonders gründlich an. Als der Polizeiinspektor in der Gestalt des Weinhändlers „Anders“ eines Morgens an Rettermeiers Konditorei und Bäckerei vorbei ging, staunte Rettemeiers Marie im Laden: „Jesses, do werden ich doch knatschverök, dat ess doch der Witkugel uss Bonn!“

Weil sich in Rettemeiers „Backstuv“ stets und gern die Oberkanoniere trafen, war diese bemerkenswerte Nachricht bald an die zuständige Stelle gelangt.

Noch am selben Abend passierte folgendes: Kromm’ Botz, Fladde, Ibet und die anderen „Bandite“ marschierten zum „Spaniun“ (heute Käufer). Pitter sagte zum Wirt hinter der Theke: „Jevv ons jet Wing!“ – „Wat vür ne Wing?“ – „Jo, dä jode Wing von däm neue Winghändler, der bei Üch wonnt!“

Spanium drehte sich leicht und zeigte der Kromm’ Botz: „Luur, do hinge setzt dä doch! Joht ens bei de Häär!“ Pitter,die Kromm’ Botz, ließ sich das nicht zweimal sagen: „Dag Herr Witkugel, mir möchte jeern jet von Ührem jode Wing hann. Dä janz jode!“ Der Weinhändler Witkugel alias „Anders“, verließ noch am selben Abend die Gemeinde Niederdollendorf.

Quelle: Bonner Rundschau
Nr. 100 vom 29. April 1960

4. Teil

Polizeiinspektor Witkugel hatte als Weinhändler Anders in Niederdollendorf eine Schlappe erlitten. Er war zu schnell von den pfiffigen „Kanonieren“ demaskiert worden. Aber der Bonner Polizeibeamte mit dem „Instinkt eines Polizeihundes“ gab es so schnell nicht auf. Als Tabakwarenvertreter versuchte er es erneut. Seine Aufgabe lautete: Wer und was sind die Kanoniere? Woher hatten sie ihren Sprengstoff? Den Sprengstoff, mit dem sie in der Samstagnacht vor Pfingsten (1910) auf der Wiese zwischen den Gleisanlagen der Reichsbahn und der Siebengebirgsbahn (Schießplatz) ein Super-Feuerwerk inszenierten. Derart, dass der Nachtschnellzug Basel – Köln – Amsterdam und der letzte Personenzug Köln – Neuwied auf freier Strecke zwischen Dollendorf und Oberkassel halten mussten, weil die Signallichter in Schwaden dicken Pulverqualms eingehüllt waren.

Aus dem Späßchen war Ernst geworden. Die Polizei nannte das, was sich in Niederdollendorf tat: Grober Unfug, Missbrauch und Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz! Der Gesetzgeber bedrohte die „Missbräucher“ mit nicht unerheblichen Strafen.

So wurde aus der Gemeinschaft gegen den Ortspolizisten Klefisch eine Notgemeinschaft gegen die Polizei. Das hinderte den stets etwas querköpfigen Ibet nicht daran „nun erst recht“ loszulegen.

Und zu diesem Zweck führte er die Plakatmalerei wieder ein: „Am Samstag großes Feuerwerk der Niederdollendorf Kanoniere. Signalschuss um 21 Uhr!“

 

Die Spatzen pfeifen . . .

So hatte Polizeiinspektor Witkugel hinreichend Gelegenheit, sich das Niederdollendorfer Geböller einmal aus nächster Nähe anzuhören. Und er tat es. Indessen wieder ohne Erfolg. Er sah zwar, wie die Sprengkörper auf dem Schießplatz hinter der Kirche in die Luft gingen und die Stille über der Gemeinde Niederdollendorf mit lautem Krachen zerrissen, aber sonst sah und hörte er nichts. Keine verdächtige Gestalt, nichts! Der findige Ibet arbeitete mit Zeitzündern, die es ihm gestatteten, seine Bomben in aller Ruhe zu legen und das Krachen in der Gemeinschaft der Unverdächtigen mitzuerleben.

Dafür wurde der Tabakwarenvertreter Witkugel erneut demaskiert. Es wiederholte sich das Spiel mit dem Weinhändler Witkugel. Er wurde von den Kanonieren in seinem Niederdollendorfer Quartier aufgesucht und angesprochen: „Dag, Herr Witkugel, mir möchte jeern von Ühre jode Zijaare jet han. Ne janze jode!“ Dem Schreiner Wirtz klagte Witkugel am anderen Tag sein Leid: „Ich gebe es auf und geh´ nach Bonn zurück. Hier pfeifen es schon die Spatzen von den Dächern, dass ich hier bin!“

 

Griet, hal fass!

Kirmes 1911 Die St. Sebastianus-Junggesellen-Bruderschaft Niederdollendorf, in der einige der prominentesten Kanoniere als Chargierte Dienst taten (Kromm’ Botz als Hauptmann und Bartel Hoitz), beabsichtigten – wie in jedem Jahr – das Fest mit Böllern einzuleiten. Dies musste jedoch bei der Ortspolizeibehörde beantragt werden. Klefisch lehnte ab. Er hatte etwas gegen Böller, was verständlich ist. Aber auch die oberen Behörden in Bonn und Köln lehnten ab. Auch sie hatten inzwischen etwas gegen die Böllerei in Niederdollendorf. Und so mussten sich die Niederdollendorfer St. Sebastianer erstmalig entschließen, ohne Böllern auszukommen.

Brudermeister Rettemeier ließ seine Sebastianer auf dem Marktplatz antreten. Er kommandierte: „Stillgestanden, rechts um, im Gleichschritt . . . Marsch!“ In dem Augenblick, da die Sebastianer den ersten Schritt taten und die „gruße Trumm“ zum ersten Mal angeschlagen wurde, begann das „inoffizielle Böllern“. Es krachte festlich und laut wie noch nie. Und die Hauptakteure marschierten friedlich im Zug mit und grienten in ihre Schnurrbärte. Pfarrer Feldhoff, 1. Vorsitzender der Bruderschaft und in diesem Augenblick Mitmarschierer, konnte sich nicht verkneifen zu dem neben ihm gehenden Brudermeister zu sagen: „Jupp, wenn de Polizei ons am Schlawittche kritt, dann küss du en de Blech!“

Am selben Abend kam es übrigens auf der Kirmeswiese noch zu einer Schlacht. Brauereipferde hatten einige Haufen gesetzt, die von einer Partei als Wurfgeschosse missbraucht wurden. So kam es, dass die „Griet“ von einem „Päädsköttel“ getroffen wurde. Voll getroffen wurde. Mitten ins Gesicht. Driss-Hännes soll dieser Volltreffer zu dem Kommentar verleitet haben: „Griet, hal fass, do kütt de Klefisch , da häste de Bewies en de Muul!“

 

Waat Jöngelche, Üch kriejen ich fott!

Die Kirmes gab der Polizei erneute Veranlassung, ihre Sucharbeit nach den Niederdollendorfer Kanonieren zu verstärken. Ibet, der Oberkanonier, sollte das zu spüren bekommen. Obwohl ihm bisher niemand die Haupttäterschaft noch Mittäterschaft zu beweisen oder auch nur  nachzusagen vermochte, wurde er von Beamten in Zivil mehr und mehr beschattet. Ebenso erging es Kromm’ Botz, dem Pitter und dem Fladde.

Ibet hatte die Römlinghovener Kirmes besucht. Als er spät abends nach Hause kam, bemerkte er schon von weitem verdächtige Gestalten vor seinem Haus. Er schlich sich hinten herum über Gartenzäune und Mauern und gelangte unbemerkt ins Haus. Er hatte vor der Tür – auf dem Bauch liegend – gewartet, bis ein Güterzug vorbei ratterte und ihm so gestattete, die quietschende Tür zu öffnen, ohne dass es von den „Wachmännern“ auf der Straße bemerkt wurde.

Ebenso unbemerkt kam Ibet auch wieder ins Freie. Er hatte einige Zeit oben an seinem Fenster zugebracht und mit wachsendem Unbehagen die nicht weichenwollenden Gestalten betrachtet. Und dann war Zorn in ihm wach geworden: „Waat Jöngelche, Üch kriejen ich fott!“

Und so war Ibet wieder nach draußen geschlichen, hatte sich im Depot an der Kirche drei ganz schwere Brocken geholt und sie in einem Anflug von grimmigem Humor in Stellung gebracht. Danach war er wieder nach Hause geschlichen, hatte sich mit zufriedener Miene ins –Bett gelegt und friedlich abgewartet, bis . . . der große Krach kam und die Splitter durcheinander flogen. Die drei Polizeibeamten in Zivil dampften nach dem Krach ab wie Hundert-Meter-Läufer im Endspurt. Und Ibet lachte sich einen Stickhusten an.

 

Eine Kiste mit Sprengstoff

Es verging eine Zeit, in der die Kanoniere etwas auf der Stelle zu treten hatten. Nach glaubwürdigen Aussagen waren damals zeitweise bis zu 30 Polizisten in Zivil nach Niederdollendorf beordert worden. Nur Ibet, Kromm’ Botz und Fladde inszenierten gelegentlich noch ein Privatfeuerwerk auf die Schnelle. Dafür aber dachten sich die Kanoniere ein Ding aus, das noch heute als der Höhepunkt ihrer Kanonierzeit anzusehen ist.

In Bad Hönningen war eine Kiste als Bahnfracht aufgegeben worden. Aufschrift: An die Kanonier-Gesellschaft in Niederdollendorf. Und darüber stand in Furcht erregenden Lettern: „Achtung! 70 Kilo Sprengstoff! Vorsicht beim Verladen!“

Der Reichsbahner im Gepäckwagen des fahrplanmäßigen Personenzuges auf der Strecke Neuwied – Köln fasste die Kiste mit spitzen Fingern an und sah sich alle halben Kilometer mit seinem Packwagen in die Luft fliegen. Schweiß brach ihm aus. Schon nach der zweiten Station fühlte er sich der seelischen Strapaze nicht mehr gewachsen. In Linz musste der Zug etwas länger halten, weil der Packwagenschaffner von der Station aus die Polizei benachrichtigte: „In meinem Wagen liegt er eine Kiste . . .“.

Und so kam alles heraus. Der Polizeiapparat lief auf Hochtouren. Heutzutage würden die Martinshörner sämtlicher verfügbarer Streifenwagen aufheulen. Damals taten es Fahrradklingeln der polizeilichen Diensträder in Oberkassel und Königswinter. Sogar von Bonn aus setzten sich Beamte auf Fahrrädern in Bewegung. Alles radelte nach Niederdollendorf. Großeinsatz war befohlen worden: „Der Bahnhof Niederdollendorf ist abzuriegeln!“ Das taten mehr als 40 Beamte. Die Diensträder wurden bei Nachtwächter Kurscheid untergestellt. Und so erwartete alles voll Spannung die Ankunft der Kiste Sprengstoff auf dem Bahnhof Niederdollendorf.

Quelle: Bonner Rundschau
Nr. 101 vom 30. April 1960

5. Teil

Der Bonner Polizeiinspektor Witkugel hatte als Weinhändler Anders und als Tabakvertreter ohne Namen in Niederdollendorf keinen Erfolg gehabt. Er hatte nichts über die Kanoniere in Erfahrung bringen können. Das einzige, was er von ihnen gehört und zu hören bekommen hatte, waren die gelegentlichen Knallereien gewesen. Weil die Kanoniere ihn längst erkannt und auch mehrfach angesprochen hatten, hielt er es für zweckmäßig, sich planmäßig und ohne wesentliche Verluste nach Bonn abzusetzen. In Bonn wurde er aber sehr bald aus seiner Dienstruhe geschreckt, als eines Tages die Nachricht übermittelt wurde, in Bad Hönningen sei eine Kiste mit Sprengstoff aufgegeben worden mit der Aufschrift „An die Niederdollendorfer Kanoniergesellschaft!“ Diese Nachricht löste im Polizeibereich Bonn Großalarm aus. Etwa 40 Beamte in Zivil und Uniform radelten mit ihren Diensträdern und unter stürmischer Betätigung der Klingeln zum Niederdollendorfer Bahnhof. Der Bahnhof wurde abgesperrt. Unsere vierte Fortsetzung schloss: Die Diensträder wurden bei Nachtwächter Kurscheid abgestellt. Und so erwartete alles voll Spannung die Ankunft der Kiste Sprengstoff in Niederdollendorf.

Alle Sicherheitsvorkehrungen waren getroffen. Die Polizei hatte ihre Sprengstoffsachverständigen mitgebracht. Die neugierigen Niederdollendorfer, darunter – unerkannt – die Masse der Kanoniere, wurden von einem Polizeikordon abgedrängt.

Langsam fuhr der planmäßige Nachmittagszug mit einer unplanmäßigen Verzögerung in den Bahnhof. Sofort stürzten Witkugel und seine Helfer von der Bonner Kriminalpolizei  zum Gepäckwagen, wo der bleichgesichtige Gepäckwagenschaffner mit sichtlicher Erleichterung die hochexplosive Fracht aushändigte. Zentimeterweise wurde die Kiste mit der unheildrohenden Aufschrift: „Vorsicht, hochexplosiver Sprengstoff, Lebensgefahr!“ aus dem Gepäckwagen auf ein bereitstehendes Fuhrwerk geladen. Dieses Fuhrwerk hatte man entsprechend der gefährlichen Last präpariert. Die Kiste ruhte auf einem dicken Polsterbett aus Lumpen. So gegen Erschütterungen gesichert, konnte die Polizei es wagen, die Kiste abzutransportieren.

 

Transport nach Oberkassel

Die Fuhre glich einem Begräbnis. Rechts und links des Gefährts schritten ehrfürchtige Polizisten mit entsicherten Degen; das heißt: sie rechneten beim Gang durch Niederdollendorf mit dem Schlimmsten. Entweder, so dachten die Polizisten des achtköpfigen Begleitkommandos, entweder fliegt die Kiste in die Luft. Dann fliegt etwas von uns mit. Oder aber sie fliegt nicht in die Luft. Dann aber ist damit zu rechnen, dass uns diese dreimal verfluchten Niederdollendorfer Kanoniere irgendeine Überraschung oder sogar einen bewaffneten Überfall auf ihre Munition veranstalten.

Sie kamen trotzdem mit ihrer gefährlichen Kiste bis Oberkassel. Ohne Explosion! Nur gelegentlich lachten Leute am Rande des Weges etwas unverschämt. Und das fuchste natürlich die Beamten in Ausübung ihres gefährlichen Dienstes.

Die Beamten, die mit den Fahrrädern zurückfahren durften, ahnten nicht, dass ihre Diensträder nur mit knapper Not einem Anschlag entgangen waren. Während sie, die Sprengstofffachleute aus Bonn, Beuel, Oberkassel und Königswinter im Bahnhof Niederdollendorf beschäftigt waren, hatten einige Kanoniere sich an den Fahrrädern der Herren Polizeibeamten zu schaffen gemacht. Ibet, Kromm’ Botz, Fladde, Käufersch Will und Hoitze Bartel waren bei Nachtswächter Kurscheid aufgetaucht und hatten . . . wollten . . . den Fahrrädern die Luft rauslassen.

Aber ein Polizeibeamter hatte unbeabsichtigter Weise den klugen Einfall gehabt, seinen mitgebrachten Polizeihund bei den Rädern zurückzulassen. Auf diese Weise wurde die Räder vor Schaden behütet; denn der Hund hinderte die Kanoniere an ihrem schändlichen Vorsatz. Lediglich die Räder, die der angebundene Hund mit seinen scharfen und auf Verbrecher dressierten Zähnen nicht „bestreichen“ konnte, wurden „platt“ gemacht. Aber das fiel den Beamten nicht auf, denn zu dieser Zeit kamen platte Reifen noch häufiger vor.

 

. . . nicht über die Rheinbrücke!

Eine Nacht ruhte die Kiste auf der Gendarmerie in Oberkassel. Es war eine unruhige Nacht, denn auch die Gendarmen dieser Dienststelle fühlten sich auf einem Pulverfass, dessen Lunte bereits brannte.

So waren sie im höchsten Maße erfreut, als am nächsten Tag die allerhöchste Order eintraf: „Die Kiste sofort weiter nach Bonn zu geleiten. Der Sprengstoff wird in der Universität Bonn von einem Experten, von Prof. . . . untersucht!“  Also geleiteten die Gendarmen der Wache Oberkassel die Kiste mit gehabter Vorsicht gen Beuel und Bonn.

Das heißt: kurz vor Beuel traf eine Hiobsbotschaft ein.  Der  zuständige Standortkommandant von  Bonn, Oberst von . . . und auch die zuständigen Stellen der Stadt, weigerten sich, der unerwünschten Fracht die Passage über die gefährdete Rheinbrücke freizugeben.

Denn so argumentierten die vorsichtigen Verantwortlichen: „Wer garantiert uns, dass die Kiste nicht just auf der Brücke den dummen Einfall hat, explodieren zu wollen! Dann geht unsere schöne Rheinbrücke in  den Rhein. Und das soll sie nicht. Deshalb bleibt die Kiste, wo sie ist: Op de schäl Sick!“

 

Herr Professor untersucht

Die Polizeibeamten gaben sich damit nicht zufrieden. Allerhöchste Stellen schalteten sich ein. Und so wurde auf dem Umweg über die Notverordnung, unter gewissen dringlichen Voraussetzungen unerlaubte und gemeingefährdende Gegenstände über die Brücke transportieren zu dürfen, die gefährliche Fracht doch noch – und zum Glück für Bonn und Umgebung – über die Bonner Rheinbrücke transportiert. Schließlich langte der Transport vor der Universität an. Die Kiste wurde ins Labor gebracht, unter allen gebotenen Vorsichtsmaßnahmen geöffnet und eine Probe des schwärzlichen, Unheil drohenden Sprengstoffes, der unter dem geöffneten Kistendeckel sichtbar wurde, entnommen.

Herr Professor . . . untersuchte gründlich. Aber alle Analysen führten zu einem Ergebnis. Und dieses Ergebnis teilte er den ungeduldig harrenden Polizeibeamten in einem handgeschriebenen Brief mit: „Die Analyse des Instituts hat ergeben, dass es sich bei dem als Sprengstoff bezeichneten schwärzlichen Pulver, adressiert an die Niederdollendorfer Kanoniergesellschaft, um ganz gewöhnliche . . . Brikettasche handelt.“

Es ist nicht bekannt, was die Polizei dazu zu sagen hatte. Aber es ist bekannt, dass der betreffende Professor nach Aussagen glaubwürdiger Zeugen einen vergnügten Abend mit mehrfach stürmischen Heiterkeits-Passagen hatte.

Quelle: Bonner Rundschau
Nr. 103 vom 03. Mai 1960

6. Teil

Was heutzutage kaum noch denkbar ist, war in den Jahren um 1910 möglich. Eine nicht genau zu bestimmenden Zahl von jugendlichen trotzte der Polizei. Mehr noch: sie ließen sich nicht fassen, sie blieben in einer so kleinen Gemeinde wie Niederdollendorf „Dunkelmänner“. gedeckt von Mitbürgern, die laut Beifall klatschten. Denn was die jungen Leute gegen die Uniformierten inszenierten, war so etwas wie die Privatrevolution gegen die absolute Herrschaft, die Allgewalt des Staates. Zwar hatten die kleinen Leute in Niederdollendorf nichts gegen den Staat, aber sie hatten etwas gegen den Vertreter des Gesetzes, gegen den Hüter der Ordnung dieses Staates in dieser Gemeinde: sie hatten etwas gegen den Polizisten Klefisch. Als dieser Klefisch Verstärkung aus Bonn erhielt, hatten sie, die jugendlichen Dollendorfer, auch etwas gegen die Verstärkung. Ihr Behauptungswillen war stärker als ihre Vernunft. Aber auch ihre Gerissenheit war stärker.

Die Brikettaschengeschichte hatte die Polizei einem schallenden Gelächter ausgesetzt. Aber wer will den Polizeibeamten des Jahres 1910 die übertriebene Vorsicht verübeln? Waren sie doch inzwischen durch die „Kanoniere“ an allerlei handfeste Knallereien gewöhnt worden.

Die erneute Niederlage führte zu einer verschärften Kontrolle in Niederdollendorf. Sogar aus der Reichshauptstadt Berlin wurden Experten herangeholt. Es ging nunmehr ums Prestige.

Aber auch den „Kanonieren“ ging es ums Prestige. In dem Maße, wie die Polizei ihre Maßnahmen verstärkte, verstärkten die „Kanoniere“ die ihrigen. Freilich schieden zu dieser Zeit alle nur „bedingt tauglichen“ Kanoniere aus. Ibet wollte nur noch die Hundertprozentigen, die Verlässlichen um sich haben. Das Risiko wurde größer, also auch seine Vorsichtsmaßnahmen.

Und Vorsicht war geboten, nachdem die „Kanoniere“ erstmalig Pech gehabt hatten. Einer ihrer Sprengköpfe war nicht losgegangen. Mehr noch: er war in „unzuverlässige Hände“ geraten. Nämlich in die des Klefisch. Und von dort weiter in die Universität Bonn, wo Fachleute die Bestandteile dieses Sprengkörpers analysierten. Es ist bis heute noch nicht geklärt, ob die Polizei nur bluffen wollte, als sie verkünden ließ: „Der Erfinder des Sprengkörpers möge sich melden, da Professor Soundso von der Universität den „Erfinder“ des in dem Sprengkörper enthaltenen Sprengstoffes unbedingt kennen zu lernen wünsche.“

 

Jagd auf Kromm‘ Botz

Ibet war gegen das Kennen lernen. Er hatte nichts gegen Professoren. Aber er hatte etwas gegen Leute, die ihm seine Geheimnisse abluchsen wollten. Er besorgte sich auf dem Umweg über gute Freunde die Analyse seines Sprengstoffes durch den Herrn Professor Soundso . . . und lächelte darüber mit dem Lächeln des Mannes, der es besser wissen muss. Heute sagt Ibet dazu: „Der Herr Professor hatte vier Parts (Teile) jefunge, et waren aber fünf!“

Mit dem gefundenen Sprengkörper hatte die Polizei lediglich ein Beweisstück, nicht aber die Kanoniere in Händen. Allerdings hätten sie auch damit fast Glück gehabt.

Es war ein später Sommerabend und es roch nach Gewitter. Schäfers Paul sagte zu Nachbarn: „Et ess esu komisch hück. Ich jlöven, et jitt noch ne Donnekiel de Naach.“ Und er sollte recht behalten mit seiner Vermutung. Denn wenige Stunden später zuckten Blitze. Aber diese Blitze zuckten nicht von oben nach unten, sondern umgekehrt, von unten nach oben. Niederdollendorfer Blitze: Marke „Kanonier“.

Die flinke Polizei sah noch die flinken Beine der „Kromm‘ Botz“ hinter der Kirche verschwinden. Und dann begann eine wilde Verfolgungsjagd. Pitter rettete sich in eines der Häuser in der „Rhingjass“, raste dort in die Scheune und rannte dabei einen Mann über den Haufen, der, nichtsdestotrotz, später sein Schwiegervater wurde.

Der „Schwiegervater, der zu dieser Zeit noch nichts von seinem Glück wusste, kam tags darauf zu Pitter, der wegen des Unfalls ein etwas schlechtes Gewissen haben musste. Ihm ahnte nichts Gutes; denn nun lag es an diesem seinem unentdeckten Schwiegervater, der Polizei Bescheid zu sagen. Deswegen auch fiel dem Pitter ein Stein vom Herzen, als der Umgerannte und wieder Aufgestandene sagte: „Pitte, et hät jod jejange. Ich senn alledings op de Röcke jefalle, ävve ich hann me net wieh jedonn!“

Kein Wunder also, wenn de Kromm‘ Botz diesem seinen späteren Schwiegervater fortan mehr als gewogen war.

 

Do kommen se ad widde!

Aber dieses Niederdollendorf war zu dieser Zeit schon ein „dolles“ Dorf. Wenn die Kanoniere ihre Bömbchen krachen ließen, traten die Bürger dieser Gemeinde auf die Straße und klatschten laut Beifall. Und das auch noch, wenn im eigenen Haus Putz von der Decke gefallen oder ein Fenster aus dem Rahmen gegangen war. Und auch Nachtwächter Kurscheid hielt seine ans Hellebardetragen gewöhnte Hand schützend über die Kanoniere. Er war einer der wenigen, die „alles“ wussten. Aber er behielt sein Wissen für sich.

Nur zwei Niederdollendorfer hatten etwas dagegen. Dat „Landsche Marie“ und Blootwuursch-Köbes. Als die Kanoniere eines Abends einzeln zu ihrem Schießplatz und bei der Maria vorbeizogen, riss die plötzlich die Fenster auf und brüllte aus Leibeskräften: „Do kommen se ad widde, die Kanoniere!“

Quelle: Bonner Rundschau
Nr. 104 vom 04. Mai 1960

7. Teil

Die Polizei verschärfte die Kontrollen in Niederdollendorf und fahndete intensiv nach den „Kanonieren“. Aber alle Bemühungen blieben ohne Erfolg. Lediglich ein Sprengkörper wurde gefunden. Und einmal sahen Kriminalbeamte die Hacken des flüchtenden Pitter (Kromm‘ Botz). Aber mehr sahen und entdeckten sie nicht. Die Kanoniere blieben im Untergrund. Wohlwollen der Niederdollendorfer Bevölkerung deckte sie zu. Nur einmal, Fastelovend 1911, gaben sie sich zu erkennen, ohne indessen erkannt zu werden. Die Kanoniere zogen im Niederdollendorfer Fastelovendszug mit einer Riesenkanone als karnevalistische Kanoniere mit. Das gab ein Gelächter!

Ein dicker Baumstamm ersetzte den Kanonieren das Geschützrohr. Und auf diesem Rohr saßen sie, die Kanoniere. Vollzählig. Das heißt, der Pitter, die Kromm‘ Botz, ritt voraus. Reiten konnte man das allerdings nicht nenne. Pitter: „Die hann mich op de een Sick op dat Pääd jehovve un op de andere Sick bin ich alleen widde eronde. Mit dem Kopp zoiertz!“

Und noch einer ritt, dem „Spekulin singe Broder (Klein-Hugo), und zwar als Polizist. Am Wege stand Klefisch, der „echte Polizist“ und amüsierte sich mit den Niederdollendorfern über die gelungene Fastnachtsparodie auf die Kanoniergeschichte, nicht ahnend, dass sich die „echten Kanoniere“ mit dieser Zugnummer einen recht kühnen Scherz erlaubten.

Einer der Wenigen, die Bescheid wussten, war „Vezällches Karl“ (Karl Klein), der Präsident der Karnevalsgesellschaft „Elf Hechte“. Er hielt am Ende des Zuges eine vieldeutige Ansprache. Er sagte: „Das Geschütz hat sich gut bewährt. Aber leider bisher nur in der Dunkelheit. Es muss doch einmal etwas erfunden werden, damit es auch am Tage schießen kann!“

Das war ein unmissverständlicher Hinweis für die Kanoniere. Und sie erfüllten den speziellen Wunsch vom Vezällches Karl, wie sich denken lässt. Aber davon später.

 

Der Esel vom Jungs Wiemer

An dieser Stelle ist noch einmal etwas über die Atmosphäre im Dollendorf um 1910 zu sagen. Denn nur aus dem Milieu dieser Tage lässt sich vieles verstehen.

Jungs Wiemer war eines der damaligen Dorforiginale. Deswegen auch hatte er „ne Essel“. Als die Dorfjugend im Oberdollendorfer Winzerverein „Die Flucht nach Ägypten“ zu spielen beabsichtigte, „liehnte“ Jungs Wiemer der Vollständigkeit halber „singe Essel“.

Der Winzerverein war ausverkauft. Alles wartete auf den Auftritt der Heiligen Familie. Aber die ließ auf sich warten. Gelegentlich wölbte sich der Vorhang, und man hörte Stimmen. Der heilige Joseph aus Dollendorf sprach auf den Esel ein. Und was er sagte, hörte sich an „Mistvieh, elendes!“. Aber plötzlich teilte sich der Vorhang. Die vorn sitzenden Zuschauer sahen ein einmaliges Schauspiel. Sie sahen den Kampf zwischen dem heiligen Joseph und dem „Essel“. Joseph war „am trecke“, am Schwanz am trecke. Aber der Esel riss los, rannte Schuberts Ann (die Mutter Gottes) öm, raste über die Bühne, verabschiedete sich mit einem dampfenden Haufen, sprang in die „Musik“, die vor der Bühne saß und flüchtete aus dem Saal.

Woraus zu erkennen ist, dass der Esel etwas gegen Theaterspielen hatte.

Jungs Wiemers Essel wurde ein weiteres Mal aktiv, als die Bittprozession durch Niederdollendorf ging. Jungs Wiemer stand am Straßenrand und „belurte sich dat Spill“. Plötzlich hielt es den Esel nicht mehr. Jungs Wiemer „hät ihm eene jezopp“. Der Esel raste los. Ein zeitgenössischer Chronist berichtete: „De Fraulück stovve met Jekriesch usenande!“

Jungs Wiemer saß eines Morgens mit Wallraffs Fritz „op de neue Schleef“. Wiemer hatte sich „ne Haas jeströpp“. Er trug ihn unterm Rock. Plötzlich erschien Flurhüter Meinen: „Jote Morjen zesamme!“ Wiemer: „Wat bes de su verjnöcklich hück morje, du Filu? Ävve dat nötz dich doch nüüs!“ Sagte es, stand auf und – ging. Flurhüter Meinen wurde nicht recht schlau aus der Rede. Deshalb fragte er Wallraffs Fritz „Wat meent de?“ Und Wallraffs Fritz erzählte von dem „jeströppte Has“, worauf sich Flurhüter Meinen totlachen wollte, weil er das für einen guten Witz hielt.

 

Zeppelin: is dat och ad jet?

Aber es ist hier auch von Spaniun, vom „Sim“ zu berichten, von dem gesagt wird, dass er täglich zwei Liter zu gluckern pflegte, und dass er vorgab, alles zu können. So bastelte er sich einmal einen Hühner- und Schweinestall nach modernsten Gesichtspunkten. Als die beiden Ställe fertig waren, hatte der tüchtige Baumeister den Schweinestall auf den Hühnerstall gebaut. Es ist nicht bekannt, ob die Schweine über die Hühnerleiter in den Schweinestall zu –kriegen waren.

Als der erste Zeppelin über Dollendorf erschien, rannte Wuurschkessels Hein aufgeregt zu Sim: „De Zeppelin!“ Sim erschien, sah sich dat Spill an und sagte gelassen: „Dat ess ävve och jet. Dat machen ich selve!“

 

Qualm-Mann Hein

Wuurschkessels Hein (Heinrich Rechmann) hatte Ersatz-Ministrant zu spielen, als Büschels Jupp singe Jroßvatte beerdigt wurde. Und er wollte es besonders gut machen. Deshalb lud er sein Weihrauchkesselchen besonders voll und steckte sich auch noch „jet in die linke Täsch“. Und am Grabe schwenkte er fleißig. Und „damit et jet mie stövv griff er ab und zu in die Täsch und streute mit der freien Hand zusätzlich Weihrauch. Und das setzte er auch auf dem Heimweg fort. Bis „vüe Beckersch Willem sing Huus en de Köp“. Da nämlich war es Pfarrer Feldhoff leid. Pfarrer  Feldhoff, von dem Wuurschkessels Hein noch heute ehrfurchtsvoll sagte: „Dä hät Häng wie en Dreckschöpp!“ Und eben eine dieser sonst stets segnenden Riesenhände flog dem Hein an die Backe. Wuurschkessels Hein: „Do hätte me eene jeseck, dat ich koppstund un dat Weihrauchkesselche mit!“ Die Wirkung des geistlichen Handstreichs? Hein musste einige Wochen zum Ohrenarzt nach Bonn in ambulante Behandlung.

Wuurschkessels Hein war auch Zeuge einer gut nachbarlichen Szene bei Müllersch Franz. De Vatte vom Müllersch Franz und dem Christinche saß mit dem Christinche in de Stuvv, als der „beroste Engel“ (die Waschfrau) wie der zürnende Luzifer ins Zimmer stürmte und rief: „Wer hät dat Jaadepörztje opjelosse? Jetzt see me die Säu övve de Wäsch jeloofe!“ Christinchen antwortete eingeschüchtert: „Dat wor de Vatte.“ Darauf de beroste Engel: „Dä buure Stockfesch!“

Vezällche und Gestalten aus Niederdollendorf, aus dem Niederdollendorf von 1910. Die Geschichten wären endlos fortzusetzen. Es wäre zum Beispiel noch jene hübsche Geschichte vom Wuurschkessels Hein zu erzählen, wie er mit Wallraffs Fritz erstmals zur schönen Maienzeit während einer Maiandacht „auf die Orgel“ und dort zusehen durfte, wie Flurhüter Meinen die Bälge trat. Wallraffs Fritz sah ebenfalls andächtig zu und sagte schließlich zu Wuurschkessels Hein: „Wenn de dinge Fingere do bovve erendeust, spillt de Orjel vierstemmig!“

Wuurschkessels Hein wollte die Orgel vierstimmig hören und drückte die Finger in die Luftklappen. Damit blieb der in vollen Choraltönen schwelgenden Orgel die Luft weg und mit einem kläglichen Stöhnen endete der Choral zur schönen Maienzeit. Flurhüter Meinen wusste, wo der Urheber dieses Abgesangs zu suchen war. Er raste hinter dem die schmale Treppe hinunter flüchtenden Hein her und hätte ihn verpasst, wenn nicht unten bereits breitbeinig wie der Engel Gabriel der Küster mit erhobenem Krummstab gestanden hätte. Und diese beiden spielten nun auf Wuurschkessels Hinterteil die Sinfonie mit Paukenschlägen. Hein wurde jämmerlich verkamisölt!

In diesem Milieu mussten die Kanoniere gut gedeihen; denn sie waren nur die Exponenten dieser Gesellschaft. So lässt sich auch verstehen, wie es zu der großen Niederdollendorfer Gerichtsverhandlung in Sachen Kanoniere und der einmütigen Haltung der Dorfgemeinschaft bei diesem Prozess kommen konnte.

Quelle: Bonner Rundschau
Nr. 104 vom 04. Mai 1960

8. Teil

Drei Jahre hatten die Kanoniere ihr nicht ungefährliches Handwerk betrieben, hatten Raketen, ihre selbstgebastelten Sprengkörper in den Himmel über Niederdollendorf steigen lassen. Und sie hatten – trotz aller Abenteurerei – jeweils mit Umsicht geknallt. Denn nie hatte es Schaden, beklagenswerten Schadengegeben. Ibet war wachsam gewesen und streng mit seinen Unterkanonieren. Trotz dieser für Revoluzzer erstaunlichen Vor- und Umsicht hatte sich schließlich ein Unglücksfall ereignet: ein Kanonier – der Name soll aus besonderen Rücksichten nicht genannt werden – verletzte sich im Umgang mit Sprengkörpern an der Hand. So konnte die Polizei endlich zufassen. Es war ein Kanonier gefunden worden! Er wurde, stellvertretend für seine noch ungenannten und nicht entdeckten Mitverschworenen, angeklagt.

Die Zeit um 1910 war eine gemütliche Zeit. Es wurde in dieser und mit dieser Geschichte schon mehrfach festgestellt. Ein weiterer Beweis dafür: Das Bonner Gericht reiste in Sachen „Kanoniere Niederdollendorf“ eigens nach Dollendorf. Schon, um Gerichtskosten zu sparen; denn es waren mehr als 70 Zeugen zu vernehmen. Und diese Zeugenvernehmung fand statt im Gasthaus Arens.

Jeder zweite Niederdollendorfer hatte zu erscheinen und zu antworten auf die Frage: „Was wissen Sie über die Kanoniere?“ – „Kennen Sie die Kanonier?“ – „Woher haben die Kanoniere ihren Sprengstoff?“ – „Wer sind die Hauptleute dieser Kanoniere?“

70 Niederdollendorfer (es waren sogar noch mehr, aber die genaue Zahl schwankt in den Angaben der wenigen „Zeugen der Zeugenvernehmung“ zwischen 70 und 180) hatten an diesem Morgen einen gemeinsamen Sprachfehler. Sie brachten das Wort „Kanonier“ nicht über ihre Lippen. Lag es an der Tageszeit oder an der Witterung: die männlichen und weiblichen Zeugen sagten mit seltener Einstimmigkeit und Monotonie: „Mir wesse nüüs!“

Es sollen Richter und Staatsanwalt nach der 25. Zeugenaussage die vollinhaltlich der ersten, zweiten und zehnten glich, sich die Haare zu raufen begonnen haben, obwohl das nach den einschlägigen Gepflogenheiten unziemlich, in dieser Situation menschlich aber durchaus verständlich war. Und auch Zeuge 70 machte keine Ausnahme: „Ich weß nüüs!“ Alle Fragen ins Detail, die der Herr Staatsanwalt stellte, endeten gleichfalls bei der Standardantwort: „Mir wessen nix!“

Das Gericht errechnete nach einem arbeitsreichen und strapaziösen Tag in der Bestandsaufnahme eine totale Pleite. Es war auch nicht einen Zentimeter vorangekommen. Niederdollendorf schwieg. Es schwieg auch da, wo Aussagen beeidet werden mussten. Ortsvorsteher und Salzjäger Röhl resümierte am Abend dieses Tages: „Noch nie in der Geschichte Deutschlands sind an einem Tag und an einem Ort unseres Vaterlandes so viele Meineide geschworen worden wie hier in Niederdollendorf!“

 

Salzjägers Volltreffer

Dabei sind die Niederdollendorfer nachträglich zu entlasten. Die meisten Zeugen wussten tatsächlich nichts über die Kanoniere. Sie ahnten bestenfalls etwas. Wenn man sie präzis danach fragte, konnten sie wahrheitsgemäß antworten: „Wir wissen nichts!“ Aber auch die, die etwas wussten, wussten nichts.

Salzjäger Röhl durfte indessen für sich in Anspruch nehmen, einen der Hauptübeltäter und Oberkanoniere, de Kromm’ Botz, Jahre zuvor auf Vorschuss bestraft zu haben. Salzjäger Röhl, Gärtner des Villengeländes „Haus Schönsitz“, hatte lange tatenlos zusehen müssen, wie ihm die schönsten Früchte seiner Obstbäume, die dicksten Kirschen, Äpfel, Birnen und Pflaumen „jeströpp“ wurden. Eines Tages aber war er es leid gewesen.

Er hatte seine Schrottflinte aus dem Schrank geholt und die Schrotladungen gegen eine Ladung Salzkörner ausgewechselt. Mit dieser Spezialmischung, gedacht für die Hinterteile kirschenklauender Jugendlicher, war er auf die Pirsch gegangen. Und gleich am ersten Abend hatte er Erfolg gehabt.

Hing da so eine Kromm’ Botz und weitere Kromm’ Botze im schönsten Kirschbaum. Die „weiteren Kromm’ Botze“ kamen noch über die Mauer. Die Kromm’ Botz Pitter aber hatte den richtigen Absprung verpasst. Und schon krachte die Flinte. Das Visier hatte genau auf Pitters großflächiges Hinterteil gezeigt. Nun schlugen eben dort die dicken Salzkörner durch den Hosenboden, durch die Botz der Kromm’ Botz ins jugendlich zarte Fleisch ein.

Pitter: „Ne janze Nohmeddag han ich minge Hingersch en lauwärm Wasse jebad’, ävve et hät nüüs jeholfe!“

 

Hausdurchsuchung bei Kromm’ Botz

Nach der Gerichtsverhandlung setzte die Polizei in verstärktem Maße ihre Sucharbeit fort. Jeder junge Niederdollendorfer männlichen Geschlechts war „suspekt“. Die Polizei trug dem Rechnung. Es wurden Hausdurchsuchungen angeordnet.

An einem Morgen erschienen drei Beamte, darunter auch Klefisch, bei Peter Frembgen in der Rhinghaß. Und Peter hatte ein sehr ungutes Gewissen. Im ersten Stock seines väterlichen Hauses lagen noch mehrere selbstgebastelte Sprengkörper. Wie die nun wegkriegen?

Vater Hermann Frembgen, die „Aal Kromm’ Botz“, wusste Rat. Er ließ sich auf einen langen Disput mit Ortspolizist Klefisch ein: „Du küss me hee net erop, dat sagen ich Dir!“ Klefisch setzte zu einer umständlichen Amtsrede an: „Sie müssen uns das Haus durchsuchen lassen. Sie machen sich sonst strafbar, Herr Frembgen!“ Die Aal Kromm’ Botz war nicht aus der Ruhe zu bringen: „Du küss me hee net erop!“

Dieweil sich im Hausflur  Hermann Frembgen und die drei aufgebrachten und gereizten Polizeibeamten unterhielten, räumte oben Pitter die Sprengkörper beiseite. Er steckte sie in die Dachrinne. Als Vater Hermann unten schließlich zugestand: „Ühr dürf’ jonn!“ war der Fall bereinigt. Fast bereinigt.

Denn Klefisch fand doch noch etwas. Und das war wie eine späte Genugtuung für alle die Streiche, die ihm gerade von de Kromm’ Botz gespielt worden waren. Klefisch fand in dem Mantel von Pitters Bruder Willi noch eine Sprengkapsel. Klefisch: „Und wat ist dat he?“ Vor Entdeckerfreude war ihm sein Amtsdeutsch in halbes Niederdollendorfer Platt zerwichen.

Einigermaßen verdutzt schauten die beiden Frembgens drein. Klefisch: „Wem is de Überzieher?“ – Pitter: „Dat eß mingem Bruder singe!“ Die Sprengkapsel langte. Pitter war erwischt.

Quelle: Bonner Rundschau
Nr. 106 vom 06. Mai 1960

9. Teil

Ortspolizist Klefisch hatte bei einer Hausdurchsuchung in der Rhingjass im Mantel von Willi Frembgen, dem Bruder der Kromm’ Botz (Peter Frembgen), eine Sprengkapsel gefunden. Diese Sprengkapsel langte der Polizei, um den der „Kanonierschaft“ hinlänglich verdächtigen Peter Frembgen für die Untersuchungshaft „reif“ zu machen. Und weil Peter und Ibet für die Polizei so etwas wie Personalunion waren, wurde Ibet (Heinrich Bungartz) gleich mit genommen. So kamen die beiden Oberkanoniere in Untersuchungshaft nach Bonn in die Wilhelmstraße. Um es vorweg zu sagen: Es konnte ihnen nichts bewiesen werden. Denn zu einer Aburteilung reichte die gefundene Sprengkapsel nicht.

Pitters Bruder Willi „beluurte sich dat Spill“ einige Zeit. Als aber Pitter hinter den soliden Gefängnismauern in Bonn verborgen blieb, trieb ihn sein brüderliches Gewissen zur Polizei: „Ühr könnt doch net minge Broder verhaffte, wenn en minge Mantel jet jefunge worde es!“ Die Polizei machte sich diese Logik zu eigen: Sie sperrte Willi mit ein. Fast vier Monate blieben Ibet, Pitter und Willi in Bonn „verborgen“.

Derweilen ging in Niederdollendorf die Jagd weiter. Und auch das Gekrache ging weiter. Die „hinterbliebenen“ Kanoniere hatten nun erst recht ihren Ehrgeiz entdeckt. Aus den noch gut gefüllten Munitionsdepots – Ibet hatte als vorsorglicher Oberkanonier noch vor seiner Inhaftierung für reichlich Nachschub gesorgt – bezogen Fladder, Hoitze Bartel, Käufersch Willi, Hammesse Klöss und wie sie alle hießen, ihre Sprengkörper. Kein Wunder, dass die Polizei leicht irre wurde an dem Wert der gefassten „Oberkanoniere“. Sollten die vielleicht doch nicht die Initiatoren sein? Die Polizei begann erneut mit Razzien, Die Jagd ging weiter.

 

Die zürnende „Mutter Jottes“

Aber auch eine andere Jagd erfreute in diesen Tagen des Jahres 1911 die Niederdollendorfer. Und sie war um einiges freundlicher als die „Kanonierjagd“.

Draches Trina pflegte das Heiligenhäuschen am Weinberg zu versorgen. So auch an einem Tag, der mittags erste schwere Gewitterwolken über Niederdollendorf sah. Trina ließ sich aber trotzdem nicht aufhalten.

Zur gleichen Zeit arbeiteten auf dem Weinberg zwei Handwerksburschen in Müllersch Rebenhängen. Weil es schwül und heiß war, hatten sie sich weit gehend ihrer Kleidung entledigt. Als heftiger Gewitterregen einsetzte, zogen sie die Reste ihrer Kleidung aus und wanderten als „Adäme“ zum Heiligenhäuschen, wo sie an der Rückwand Schutz suchten.

Draches Trina stand auf der anderen Seite. Und sie hatte die beiden pudelnackten Gesellen kommen sehen. Ihr Unmut darüber ließ sich nicht länger zurück halten. Also brüllte sie aus Leibeskräften: „Ihr Säu, ihr Schweine! Wollt ihr Üch jet andonn!“

Die beiden Adäme waren wie vom Blitz getroffen. Da sie niemanden am oder im Heiligenhäuschen sahen, hielten sie den unmissverständlichen Befehl für eine Dienstanweisung der „Mutter Jottes“. Sie liefen, was sie laufen konnten und zogen sich noch im Handgalopp die Hosen über ihre Blöße; denn noch immer krachte der Donner durchs Rheintal und sie fürchteten eine prompte himmlische Strafe mittels Blitz.

Auch die Müllerschen konnten die beiden Handwerksburschen nicht beruhigen: „Die Mutter Jottes hät zo ons jesproche!“ Als der Sachverhalt im Dorf bekannt wurde, gab es ein anhaltendes Gelächter und viel Beifall für die couragierte Trina.

In der Wilhelmstraße brummten aber noch immer die Oberkanoniere. Sie brummten auch über Pfingsten. Da entschlossen sich die hinterbliebenen Kanoniere, ihren unabkömmlichen Obermitgliedern eine kleine Pfingstfreude zu bereiten.

Auf dem Niederdollendorfer Markt hatte ein Wanderzirkus sein Zelt aufgeschlagen. Am Pfingstsonntag war Festvorstellung. Geladen waren u. a. per Frei- und Ehrenkarte Ortspolizist Klefisch und die Nachbarbeamten. Um 15 Uhr begann die Vorstellung. Als der Zirkus gerade so schön zu Gange war, begann draußen auf dem Lagerplatz und hinter der Kirche ein gemeingefährliches Krachen. Zunächst erschraken die Zirkusbesucher. Dann aber erkannten sie an dem spezifischen Krach die Kanoniergeschosse. Und da liefen sie nach draußen und klatschten laut Beifall. So wurde die unterbrochene Zirkusvorstellung zu einer Sympathiekundgebung für die inhaftierten Ibet, Kromm’ Botz und Willi Frembgen.

Am Donnerstag danach kamen Pitter und Willi aus dem Knast. Sie wurden von ihren Mitbrüdern in Niederdollendorf begeistert empfangen. Ibet hatte noch bis Samstag zu warten. Dann durfte auch er nach Hause. Aber er wurde weniger freundlich begrüßt. Was war vorgefallen?

Nun, es gibt verschiedene Versionen darüber. Die einen behaupten: Ibet hätte im Gefängnis die Unvorsichtigkeit begangen, seiner Mutter einen Zettel mit verschiedenen Hinweisen auf Munition usw. auszuhändigen. Dieser Zettel wäre aber an einen Gerichtswachtmeister und von dort natürlich an die Polizei geraten. Andere wollten wissen, dass zu dieser Zeit das Verhältnis leicht getrübt gewesen sei, weil Ibet immer kühner und damit auch das gemeinsam betriebene Handwerk immer gefährlicher geworden wäre. Kurzum: Als Ibet aus dem Knast kam, wurde er mit unerwarteter Zurückhaltung empfangen.

Quelle: Bonner Rundschau
Nr. 107 vom 07. Mai 1960

10. Teil

Ibet (Bungartze Drikkes), Pitter (Kromm’ Botz) und Bruder Willi hatten ihre Untersuchungshaft in Bonn abgesessen. Sozusagen in Sachen Kanoniere Niederdollendorf. Trotz diverser Verhöre und aller diesbezüglicher Vernehmungstricks waren sie nicht zu überführen gewesen. Man hatte ihnen nichts beweisen können. Also waren sie zu entlassen. Im Dorf wurde die Ankunft der beiden Frembgens stürmisch gefeiert. Ibet, der Oberkanonier und Gründer der Gesellschaft „knallkörperischer Sprengstöffler“, aber wurde weniger lautstark besucht. Seine organisierten Untertanen argwöhnten, Ibet habe durch einen Zettel an die Mutter die Munitionsdepots in Niederdollendorf der Polizei verraten. Zum ersten Mal in der dreijährigen Kanonier-Geschichte waren die Mitglieder uneins. Und wie in den großen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens, so wurde dieser Unfriede im eigenen Lager auch Niederdollendorf zum Anfang vom Ende.

Das heißt: Schon wenige Wochen vorher hatten die Unterkanoniere ihrem strengen Oberkanonier bereits ein Ding gedreht. Ibet hatte immer kühn behauptet: „Bei mir passiert nix!“ Und diese herausfordernde Behauptung hatte die Unterkanoniere zu einem Streich ermuntert.

Sie hatten das Lokusdach von Knotts Hein in der Oberkasseler Straße abgedeckt, nachts quer durch Niederdollendorf zu Ibets Haus geschleppt, dort unter Aufbietung aller erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen Ibets Lokusdach abgedeckt, Knotts Dach auf Ibets Häuschen gesetzt und waren mit Ibets Dach abgezogen. Das war eine Mordsarbeit, hatte doch Ibet, vorsichtig wie er war, in seinem Garten und rings um das Haus Drähte gezogen und auch am Häuschen verschiedene Alarmvorrichtungen angebracht. Aber die Dachträger waren mit der notwendigen Sorgfalt zu Werke gegangen. Es war ihnen ihr Vorhaben gelungen, ohne Ibet im Schlaf zu stören.

Ibet hatte sich am nächsten Morgen nicht wenig erstaunt gezeigt: „Wer hät et jedonn?“ Niemand wusste etwas darüber; denn Ibets Fäuste waren damals unter Brüdern und Gesellschaftsmitgliedern hinlänglich bekannt. Aber jeder der Dachträger hatte die stille Freude und Genugtuung, dem Boss einen Streich gespielt und sich selbst bewiesen zu haben, dass es ohne Ibet auch ganz gut ging.

Vielleicht spielte diese Einsicht eine wesentliche Rolle bei der Revolution gegen Oberkanonier Ibet.

Samstag nach Pfingsten. Die Kanoniere hatten beim „Spaniun“ zusammen gesessen und die Heimkehr der Inhaftierten gefeiert. Dabei kam es zu Vorwürfen gegen Ibet. Ibet, eigenwillig wie eh und je, verließ aus Protest das Versammlungslokal und ging.

Vor diesem Punkt an widersprechen sich die Aussagender Beteiligten. Und so wäre die farbigste Schilderung auszuwählen. Sie stammt vom Fladde:

Danach verließen dir „Restkanoniere“ wenig später die Stätte eines handfesten Besäufnisses und wanderten über den Marktplatz. Auf dem Marktplatz geschah wenige Schritte vor der Pferdetränke folgendes: Hammesse Klööß schlug ohne sichtbaren Grund dem Fladde mit der flachen Hand auf den Mund. Pech für Fladde, der gerade eine Zigarre im Mund hatte. Und die rutschte ihm durch den Schlag in den Hals. Er holte sie aber seelenruhig wieder hervor und fragte den Schläger Hammesse Klööß friedfertig: „Sach, wor dat erns?“ Hammesse Klööß: „Jojo dat!“ Da holte Fladder ebenso seelenruhig zu einem Konterschlag aus und donnerte Hammesse Klööß eine Faust zwischen Nase und Mund.

Von der Wucht des Schlages flog Hammesse Klööß mit dem Hintern in die Pferdetränke. Und dort blieb er liegen, um lauthals mit weinerlicher Stimme über den nächtlichen Platz zu rufen: „Minge beste Fründ hät mich jehaue!“

 

Du kuus de Hein dozwesche

Was weiter geschah, ist ebenfalls nur noch bruchstückhaft überliefert. Ibet war auf einmal wieder dabei und fegte dazwischen.

Sagt der 75jährige Pitter (Kromm’ Botz) heute dazu: „Do kuus de Hein dozwesche, do floge mir wie de Schnieflocke en de Luff eröm!“

Die Eintracht kam wieder. Allerdings ohne Oberkanonier Hein. Weil jeder etwas abgekriegt hatte, und weil alle Kanoniere von der Schlägerei irgendwelche Wunden übrig behalten hatten, entschlossen sie sich gemeinschaftlich, zum Dr. Engelbrecht in ambulante Behandlung zu gehen. Aber nachts gegen 0:10 Uhr meldete sich dort niemand. So fuhren die verwundeten Kanoniere mit dem letzten Nachtzug nach Königswinter zum Dr. Stommel, der späte und lädierte Kunden aus gelegentlichen Besuchen ähnlicher Art bereits kannte.

Dr. Stommel empfing die Lazaranten. „Na Ühr Buure Frängel! Hät Ühr Üch widde zeklopp?“ Danach verband er die müden Krieger. Darunter die Kromm’ Botz, die eine Zentimeter lange Stirnwunde hatte, die heute noch als dicke Narbe gut zu erkennen ist. Am Montagmorgen aber beherrschte nur ein Gesprächsthema die Gemeinde: „De Ibet is fott!“

Ibet hatte noch am  selben Abend seinen lang gehegten Entschluss in die Tat umgesetzt: Er war in Richtung Holland, Richtung Amsterdam, gefahren und hatte sich dort als Kohlentrimmer auf einem Schiff der Amerikalinie verdingt. So landete er  Wochen später in Amerika. Damals war das nicht schwierig, weil Pässe nicht gefragt waren.

Ohne Ibet aber begann die Kanoniergeschichte abzuflauen. Es fehlte der Kopf. Die Knallerei endete. Und die Polizei konnte die umfangreiche Akte „Niederdollendorfer Kanoniere“ schließen, ohne je ganz hinter alle Geheimnisse gekommen zu sein. Aus Amerika kam Ibet in den zwanziger Jahren noch einmal nach Niederdollendorf zu Besuch. Aber es hielt ihn dort nicht lange. Er fuhr wieder zurück über den großen Teich. Und drüben hatte er vielfältige Möglichkeiten für seine verschiedenen originellen Fähigkeiten. Er wurde Arbeiter in chemischen Fabriken, Maschinist, was er von Hause als Schlosser war, und vieles mehr. 47 Jahre wurden daraus. Erst im Herbst 1959 rief ihn ein Telegramm zurück nach Niederdollendorf. Die einzige Schwester hatte es abschicken lassen. So kam Ibet zurück. Als 83jähriger und als wohlhabender Mann.

Und so wäre diese Geschichte zu Ende. Aber der Chronist muss ihr noch ein Nachwort anhängen.

Ein Nachwort

Es hat nicht an kritischen Stimmen gefehlt,  die diese derben Jungenstreiche der Kanoniere als das abgetan haben, was sie zweifelsohne auch sind: Als Untaten. Nun wird man bei einer kritischen Durchleuchtung der „Niederdollendorfer Kanoniere“ nicht übersehen dürfen, wie sehr sich diese Geschichte aus der Zeit, in der sie geschah, versteht. Und es wird ferner nicht zu übersehen sein, dass mit wie viel Witz die jungen Leute zu Werke gingen. Und trotz aller Streiche fehlte auch nie eine gewisse Umsicht.

Weit davon entfernt, Jungenstreiche hier als Heldentaten festzuhalten, ging es vor allem darum, ein Stück heimatlicher Dorfgeschichte aufzuschreiben und sie so der Nachwelt zu erhalten. Davon ausgehend, dass diese Niederdollendorfer Tage der Jahre um 1910 kaum bekannt waren und sind, und dass sie auch heute, nach 50 Jahren, noch die Lachmuskeln zu reizen vermögen.

Zum Trost für alle die nicht zu beruhigenden Kritiker aber sei darauf hingewiesen: Aus Ibet, Fladde, Kromm’ Botz, Käufersch Will und den anderen Kanonieren wurden ausnahmslos tüchtige und erfolgreiche Mitmenschen; Niederdollendorfer, die sich auch heute noch in ihrer Gemeinde und darüber hinaus des besten Rufes erfreuen.

Quelle: Bonner Rundschau
Nr. 110 vom 11. Mai 1960